Als sich Rodlerin Jessica Tiebel Ende Januar in Sigulda zum letzten Mal in den Eiskanal stürzte, fehlte ihr jegliche Motivation. Zwei Monate später sitzt die 21-Jährige in einem Café in der Dresdner Altstadt und spricht darüber, wie ihr altes Leben aufhörte. „Am Start war ich so…“, sie bricht ab, ihr fehlt das passende Wort. Dann sagt sie: „Ich wollte einfach nicht mehr.“ Nach dem Wettkampf fuhr sie nach Hause und sprach mit ihrer Psychologin. „Hör auf“, habe die ihr geraten.
Wenige Wochen später verkündet die Sportlerin dann offiziell ihr Karriereende. Sie rief Bundestrainer Norbert Loch an, schrieb einen öffentlichen Brief an ihren Verein. Darin bedankte sie sich zunächst für viele Jahre Unterstützung, erzählte aber auch von Motivationsproblemen – und dass sie psychisch an ihre Grenzen gestoßen sei. Tiebel hatte sich für das Karriereende entschieden, obwohl sie zwei Jahre zuvor noch die beste Rodlerin der Welt in ihrer Altersgruppe war. Wie konnte es so weit kommen?
„Früher war ich sehr locker, ich habe immer gesagt, dass Wettkampf Performance ist. Ich war mir meiner Sache immer sehr sicher“, erinnert sie sich. Sie hatte früh Erfolge. Als Vierzehnjährige zog sie zu Hause aus und ging auf das Sportinternat in Altenberg. Später gewann sie mehrmals die Welt- und Europameisterschaften bei den Juniorinnen.
„Schlimmste Zeit meiner Karriere“
Als sie mit 19 Jahren zum ersten Mal überraschend im Frauenweltcup am Königssee starten durfte, landete sie auf Anhieb auf dem Podest. Dieses Rennen beschreibt sie als den Wendepunkt ihrer Karriere. Aus dem Hobby wurde ihr Beruf. Es kam der Druck, es begann die „schlimmste Zeit meiner Karriere“, wie sie sagt.
Es stiegen die Erwartungen der Trainer und des Umfelds im Nationalteam. Tiebel war nicht mehr die Jugendliche, die intuitiv und selbstbewusst fuhr, sondern hatte Angst, Fehler zu machen. Sie suchte sich psychologische Hilfe.
Jessica Tiebel
Mathias Mandl/ imago images/ GEPA pictures
Der Übergang vom Jugend- in den Erwachsenenbereich fällt vielen jungen Sportlern und Sportlerinnen schwer. Es geht weg von den Juniorentrainern und zur Nationalmannschaft mit anderen Strukturen. In Jessica Tiebels Fall ein Wechsel zum Trainerteam rund um Bundestrainer Norbert Loch.
Das Gefühl fürs Fahren geht ihr verloren
Tiebels langjähriger Jugendtrainer Uwe Günther, eine wichtige Bezugsperson, wechselte den Stützpunkt. Im neuen Umfeld fühlte Tiebel sich unwohl. Sie habe kein Vertrauen gespürt. Ihr Unwohlsein wirkte sich auf den Sport aus, Tiebel verlor das Gefühl fürs Fahren, so beschreibt sie es. Die Kritik von Trainern und Betreuern nimmt zu.
Auf Anraten der Psychologin habe sie immer wieder das Gespräch mit Bundestrainer Loch gesucht. Die Gespräche blieben aber ohne Wirkung. „Er hat einfach nicht verstanden, was mein Problem war“, sagt Tiebel, die sich mehr Unterstützung und Verständnis für ihre Ängste gewünscht hätte.
Loch hingegen sagte dem SPIEGEL, dass er Tiebels Probleme sehr ernst genommen habe. Er selbst und auch andere Trainer hätten immer wieder mit ihr darüber gesprochen. „Ich habe versucht zu verstehen, was ihr Problem war. Mir gegenüber hat sie immer von Motivationsproblemen gesprochen, die sie seit geraumer Zeit und nicht nur im A-Team hatte. Ich kenne das, wir haben alles getan, um ihr sportliches Umfeld zu optimieren“, sagt Loch.
Bundestrainer Norbert Loch
Tobias Hase/ picture alliance/dpa
Mit der Zeit brachen Tiebels Leistungen ein, ihr fehlte das Selbstbewusstsein: „Ich hätte manchmal jemanden gebraucht, der sagt: ‚Jessica es ist alles gut. Wollen wir mal reden?‘“
Nachts aufgewacht und geschrien vor Wut
Tiebel bekam die Kritik der Trainer nicht mehr aus dem Kopf, sagt sie. „Ich bin nachts aufgewacht und habe geschrien vor Wut über Sachen, die gesagt wurden.“
Loch dagegen kritisierte vor allem Tiebels Einstellung. In einem Interview mit der „Sächsischen Zeitung“ sagte Loch, Tiebel habe zu wenig Biss gehabt und zu wenig trainiert. Das bestätigte Loch gegenüber dem SPIEGEL: „Das war schon länger ein Problem, dass mir auch die Kollegen zugetragen haben. Ich muss das auch als Cheftrainer ansprechen und auch kritisieren dürfen.“
Verstehen kann Tiebel die Kritik nicht. Sie hatte eine Rückenverletzung im Sommer, konnte deshalb nicht voll trainieren. Sonst habe ihr das Training immer Spaß gemacht. Die Leistungen zum Saisonbeginn, als sie auf das Podest fuhr, bestätigten ihre Form, bis die Zweifel immer mehr wurden. Mit dem Tiefpunkt beim Weltcup in Sigulda.
Psychisch ging es Tiebel in dieser Zeit nicht gut, sie konnte sich nicht konzentrieren, hatte kein Selbstbewusstsein: „Ich habe mich gefragt, warum soll ich die Bahn runterfahren, wenn mir am Ende wieder alle sagen, wie schlecht ich war. Dann gucken wir das Video an und dann sagen wieder alle es ist schlecht und dann fahre ich wieder runter und es ist wieder schlecht. Warum soll ich das machen?“
Jessica Tiebel
Sebastian Widmann/ Bongarts/Getty Images
Als Loch sie nach dem ersten Lauf auf ihre Fehler anspricht, kann sie nicht mehr: „Es ist mir scheißegal. Ich will einfach nicht hier sein“, habe sie ihm gesagt. Tiebel machte sich Sorgen um ihre Gesundheit. Sie fühlte sich geistig abwesend. „Es wäre gefährlich geworden, wenn ich immer weiter unter diesem Stress gefahren wäre“, sagt sie heute, „man muss schon da sein, wenn man die Bahn runterfährt.“
Tiebel fuhr den zweiten Lauf und landete auf Platz 22. Nach dem Rennen einigten sich Tiebel und Loch darauf, dass sie eine Pause einlegen wird. Es war ihr letztes Rennen, wird sich später herausstellen. Am 28. Februar verkündete Tiebel ihr Karriereende. Loch erfuhr es über das Telefon. Er war kurz angebunden und sagte, er melde sich dann noch mal bei ihr. Das ist bisher noch nicht geschehen.
Tiebel will sich jetzt auf ihr Physikstudium in Dresden konzentrieren, das während der Rodelkarriere zur Nebensache wurde. Eine Rückkehr zum Rodelsport kann sie sich derzeit nicht vorstellen.
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